Samstag, 18. Mai 2013

Unsere Rezension des Implexes (erscheint in der nächsten Testcard)

Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee von Barbara Kirchner und Dietmar Dath

Keine Spur linker Aufbruchsstimmung. Wenn man auf dem Grund angekommen ist, kann es nur noch aufwärts gehen. Was die mantraartig wiederholte Erbauungsformel ausblendet: Man muss sich auch auf den Weg machen. Zwanzig Jahre nach der Niederlage des 'real existierenden' Sozialismus scheint linke Theorie im Tal ihrer Bedeutungslosigkeit lieber Wurzeln zu schlagen. Wer sich nicht über feuilletonaffine Phantasterei und rechthaberische Klassiker-Exegese definieren will, sondern allem ideologischen und praktischen Unbill zum Trotz ein produktives Verhältnis zur verbesserungsbedürftigen und -fähigen Gegenwart sucht, wem Žižek zu wirr, Boltanski/Chiapello zu akademisch und Lukács zu gestrig sind, sollte zu dem vor einem Jahr erschienenen Buch von Barbara Kirchner und Dietmar Dath greifen. Denn statt postmodernem Lecken an philosophischen Fragmentbeulen bieten sie eine Gesamtschau: Was war das eigentlich, dieser ominöse soziale Fortschritt, den man seit dem 18. Jahrhundert zu verwirklichen suchte? Wie ging nochmal Aufklärung und wohin wollte sie?
Wo nicht allein schon das Wort Aufklärung hohle Proklamationsorgien von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit auf den Plan ruft, wartet oft ein entmutigender Befund: “Es ist das Paradox der Aufklärungen, daß sie zu ihrer Bedingung machen muss, was doch erst ihr Produkt sein kann“ (Hans Blumenberg). Zumeist wird aus diesem Umstand gefolgert, dass sie deshalb unmöglich oder schädlich oder ihre Paradoxalität ein idealisierter Selbstzweck sei. Andere ersticken sie im Überschwang ihrer Umarmung. Aufklärung wird entweder zu einer Rechtfertigungsmaschine für Ohnmacht und Terror (so etwas mögen die Jünger Trotzkis und Maos gerne) oder zu einem humanistischen Projekt, aus dem dann hier und da Reformen hervorquillen, erklärt.
Dahinter steckt massive Unkenntnis bisheriger Aufklärungswellen, seien es die Griechen der Antike, sei es die Ideengeschichte der Neuzeit. Wo immer Theorie sich aus ihrer Verwandtschaft mit der Theologie löst, verdoppelt sie sich in einen induktiv-empiristischen und einen deduktiv-rationalistischen Arm und geht die Wahlverwandtschaft mit der Wissenschaft von der Natur ein. Schließlich tendieren zur Zweiten Natur geronnene soziale Verhältnisse dazu, Individuen zu verdummen, bis unter Natur nur noch tote Materie oder eine esoterisch waltende Urkraft verstanden werden kann. Die Schnelligkeit, mit der Szientismus- und Naturalismusvorwürfe in halbwegs gebildeten Kreisen formuliert werden, verrät die Dringlichkeit einer Erneuerung. Um darauf pochen zu können, dass alles ohnehin schon Gemachte auch weiterhin veränderbar ist, braucht es ein Verständnis von Natur als das „der Veränderung durch Kommunikationsakte nicht Zugängliche“. Denn Aufklärung nicht als historisches Phänomen, sondern als politisches Prinzip von heute für heute wüsste sonst nicht, worüber noch wie aufzuklären. Gerade das allenthalben gefeierte konstruktivistische Erkenntnisinteresse führt nicht dazu, Modernisierungsschübe zu wagen, sondern gefällt sich in der Rolle, die Lernfähigkeit des Kapitals auch dort noch zu garantieren, wo es widerständige Potentiale zu aktivieren vermeint. Wo solche Aktivierung wirklich gelingt, wird sie ihren Erfindungsreichtum für Entdeckergeist halten müssen, wie es schon die Mütter und Väter des Naturrechts taten ohne sich daran zu stören, dass 'Naturrecht' ein Widerspruch in sich ist und nur durch Handeln rückwirkend wahrgemacht werden kann.
Mit dem Paul Valéry entlehnten Terminus Implex1 bezeichnen Kirchner und Dath die Doppelfigur von einer konkreten Situation inhärenten Freiheitsgraden mitsamt ihrem Erschließungsmuster. Diese Potentiale schlummern keineswegs irgendwo in der subjektiven Rumpelkammer des Gattungswesens, doch gibt es sie erst, sobald sie expliziert worden sind. Mit dem Implex-Begriff korrigieren die Autoren manchen Konstruktionsfehler der klassischen materialistischen Dialektik, von ihrem Substanzdenken bis hin zu ihren eher lokalen Vorurteilen wie der reduktionismusanfälligen Metapher von Basis und Überbau, ohne ihre zur gesellschaftlichen Praxis drängenden rhetorische Kraft durchzustreichen. Dies ist der Vorteil des Implex gegenüber der differance oder dem Rhizom, welche als Alternativen zur böse-logozentrischen Dialektik erdacht wurden: Statt endloser, Handlung hemmender Feindifferenzierungen ermöglicht er die Veränderbarkeit sozialer Tatsachen.
Dieses postkonstruktivistische Programm erfüllen Kirchner und Dath, indem sie den relativistischen Zeitgeist auf beinahe allen Feldern von Wissenschaft, Kunst bis zu der etwas knapp behandelten Realgeschichte durch Nachweis (und nicht durch die grobschlächtigen Behauptung) von Zirkelschluss, Selbstwiderspruch und Themaverfehlung ad absurdum führen. Ohne diese Drecksarbeit wäre die Rede von einer Universalität, die weder auf eine Eschatologie im Wolfspelz (diverse Pauluslektüren jüngster Vergangenheit) noch auf die apriori-Chimären von Habermas oder Rawls hinausliefe, gehaltlos.
Sozialer Fortschritt fährt weder auf Schienen noch marschiert er auf Geheiß eines abstrakten Willens. Nachdenken in und mit dem Implex erzwingt, die lassalleanische Verelendungstheorie und ähnliche Kurzschlüsse ebenso auf Abstand zu halten wie Negri/Hardts Verwechslung von Brosamen mit Revolution. Er erlaubt sogar einen Blick hinter die Kulissen: Mechanismus und Voluntarismus stehen in komplementärer Komplizenschaft. Gemeinsam haben sie das cartesianische Denken in Nullen und Einsen. Lieber sprechen Dath und Kirchner von etwas, das unter Linken (in der Schwarz-Weiß-Rhetorik vieler Revolutionstheorien nicht anders als im Essentialismus mancher Gesellschaftsanalysen) meist ausgeblendet bleibt und verantwortungslos dem (Neo-)Liberalismus, seinen anthropologischen Grundüberzeugungen bis hin zu seinen politökonomischen Implikationen überlassen wird: Von Wahrscheinlichkeiten.
Seit dem Sieg des Bürgertums in der „atlantischen Doppelrevolution“ hat keine Strömung des politischen Denkens die Veränderbarkeit sozialer Tatsachen im Sinne der Aufklärung so intensiv durchdacht und praktisch werden lassen wie der Sozialismus marxistischer Prägung. Deshalb unterziehen Kirchner und Dath die angestaubten Vokabeln des historisch-dialektischen Materialismus einer breiten kritischen Revision. Eine undogmatische, aber durchweg positive Lektüre von Lenins Parteitheorie taucht neben Peter Hacks‘ Überlegungen zu der Klassenstruktur im Sozialismus genauso auf wie die Aneignung systemtheoretischer und pragmatistischer Begriffe; Nicos Poulantzas und Alain Badiou erhalten nicht weniger Raum als Friedrich August von Hayek und Carl Schmitt. Das positive Element der Kritik, das, was man einst die bestimmte Negation nannte, wird hier in sein Recht gesetzt. Ob man nicht trotzdem die eine oder andere Anmerkung zu irgendeiner Spielart des Neuplatonismus, der und der Entwicklung der anglophonen Philosophie und noch einem wenig bekannten Science-Fiction-Werk auch mal weglassen kann, bliebe dennoch zu überdenken. Gutes Lektorat ist etwas anderes, Lesefluss auch.
Doch bevor man sich dem Antiintellektualismus Alexander Cammanns anschließt, der in der ZEIT den Autoren „kalaschnikowartige Selbstermächtigungsprosa“ vorhält, mache man sich klar, dass sich in solch einem eben kalaschnikowartigem Urteil nicht zuletzt Scheu und Abscheu des liberal-demokratischen Konsenses ausdrückt. Treffender nennt der einzige Rezensent, der die holprigen 800 Seiten durchgegangen zu sein scheint, Georg Fülberth, die beiden „ideologische Trümmerfrauen“, zeichnet sie doch nicht nur akribisches Wissen über das Gewesene und Vorhandene aus, sondern auch der Blick für das (Wieder-)Aufzubauende - Aufklärung ist Marxismus avant la lettre, Marxismus Aufklärung mit anderen Mitteln.
So gelingt dem Buch seine eigentliche Leistung: Die Entwicklung einer Terminologie, welche dem Leser gleichsam in einem loop nicht nur analytisches Werkzeug verschafft, sondern seine Wahrnehmung auf Fakten setzendes Handeln eicht. Ein Denken in Möglichkeiten, das nicht in die Utopiefalle geht, ist das Resultat. Wer heute noch die Weltabgewandtheit der Linken beweint und nach der Einheit von Theorie und Praxis fahndet: Hier ist sie.


1Die Einzahl setzen die Beiden bewusst und analog zu dem Sprachspiel, nach dem man auch von „der“ Vergangenheit reden muss, will man die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.